| Dr. Heike Pöppelmann und Dr. Hansjörg Pötzsch

Mut zur Geschichte!

Anne Frank, Heinrich Jasper und Bergen-Belsen

„Wir können, wenn überhaupt, nur aus der Geschichte lernen. Etwas anderes ist uns gar nicht verfügbar.“ – Magnus Brechtken

Seit geraumer Zeit diskutieren wir im Braunschweigischen Landesmuseum – wie so viele in Deutschland – über abwegige Aussagen zu historischen Personen. Da ist zum Beispiel eine Elfjährige, die auf einer Corona-Demonstration in Karlsruhe im November 2020 ihre Lebenssituation unter der Corona-Pandemie mit der Anne Franks verglich. Anne Frank hatte sich während des Zweiten Weltkrieges als Jüdin zusammen mit ihrer Familie im von den Deutschen besetzen Amsterdam versteckt gehalten, bevor sie entdeckt und deportiert wurde und im Konzentrationslager Bergen-Belsen umkam.

Wie kann es sein, dass man wegen der aktuellen Corona-Beschränkungen seine eigene Situation mit der von verfolgten Juden und Jüdinnen und auch Widerstandskämpfer*innen (Sophie Scholl) unter dem NS-Regime gleichsetzt? Wegen der Pflicht zum Maskentragen und zur Einhaltung der Hygiene-Regeln instrumentalisieren Corona-Leugner die Opfer des Nationalsozialismus für ihre Zwecke und versuchen mit ihrem ‚effektvollen‘ Vergleich, den Blick zurück in die Geschichte zu manipulieren. Die absurden NS-Vergleiche provozierten, mit ihrer Relativierung von Holocaust-Opfern und von mutigen Einsätzen gegen die Diktatur. In der Medienwelt von der Tagepresse bis zu den Social Media-Kanälen folgte dieser historischen Instrumentalisierung zu Recht eine Fülle von Publikationen und Kommentaren zwischen sachlicher Analyse und Satire.

Der Vorfall im November ist kein Einzelfall. Immer wieder tauchen diese wirren Verknüpfungen von Gegenwart und Vergangenheit auf. Wie kann man dem entgegnen? Es ist eine gesellschaftliche Verantwortung, Geschichtsverdrehung entgegenzutreten, indem wir weiterhin und unverdrossen auf unterschiedlichen Ebenen handeln: im privaten wie öffentlichen Raum, in der Schule wie im Museum, in der Wissenschaft wie in der Politik. Lassen Sie uns unsere Zukunft in die Hand nehmen, indem wir Mut zur Geschichte haben und historische Erfahrungen ernst nehmen!

Vor diesem Hintergrund möchten wir Ihnen Menschen aus dem Braunschweiger Land vorstellen, die sich eingesetzt haben gegen Diktatur, Unterdrückung und Verfolgung auch unter Einsatz ihres Lebens.

Da ist zum Beispiel Heinrich Jasper (1875-1945). In Dingelbe bei Hildesheim als Sohn eines wohlhabenden Gutspächters geboren, zog er 1890 nach der Scheidung der Eltern zu seinem Vater nach Braunschweig. Nach dem Jura-Studium ließ sich Jasper 1901 als Rechtsanwalt in Braunschweig nieder. Die Aussicht auf eine wohlsituierte Juristenkarriere allein reichte ihm aber nicht. Ausgestattet mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit wollte er an der Gestaltung der Gesellschaft mitwirken und politisch aktiv sein. Ungewöhnlich für einen Akademiker großbäuerlicher Herkunft war es allerdings, dass er sich 1902 keiner bürgerlichen Partei, sondern ‚ausgerechnet‘ der Sozialdemokratie anschloss. Er war sich ohne Zweifel bewusst, was dieser in der bürgerlich-konservativen Welt des Deutschen Kaiserreichs als inakzeptabel empfundene Schritt für ihn familiär, gesellschaftlich und beruflich bedeuten konnte.

Als Braunschweiger Stadtverordneter (1903-1928), Landtagsabgeordneter (1918-1933), Ministerpräsident des Freistaats Braunschweig (1919/20, 1922-1924, 1927-1930), Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion (1930-1933) und Mitglied des Deutschen Reichstags in der Weimarer Nationalversammlung (1919-1920) gehört Jasper zu den bedeutenden politischen Personen Braunschweigs. Sein standhaftes Eintreten für die parlamentarische Demokratie zeichnete ihn besonders aus. So warnte Jasper 1932 die Reichsinstanzen vor der zunehmenden Unterdrückung der gewaltbereiten Nationalsozialisten, die im Land Braunschweig bereits seit September 1930 an der Regierung beteiligt waren. Das und seine führende Rolle innerhalb der Braunschweiger Sozialdemokratie wurde ihm, dem „Anwalt der Demokratie“ (Martin Grubert), nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten und dem Ende der Demokratie zum Verhängnis.

Die auf Gleichschaltung und Führerprinzip aufgebaute menschenverachtende NS-Diktatur duldete keine politischen Gegner, keine andere Meinung, keinen Protest, keine Demonstration, keinen Widerstand, keine Berufung auf die Grund- und Menschenrechte und keine Anrufung der Gerichte. Ein Menschenleben zählte nichts. Die Gegner der NS-Gewaltherrschaft wurden gnadenlos und brutal verfolgt, so auch Heinrich Jasper, der über 14 Jahre lang drangsaliert und gequält wurde und schließlich an den Folgen verstarb.

Nachdem er von den Nationalsozialisten schon seit deren Regierungsbeteiligung im Land Braunschweig mit Verleumdungen überzogen worden war, stellte die „Braunschweigische Landeszeitung“ nach einer monatelangen Hetzkampagne gegen ihn am 18. März 1933 die Frage, warum man eine Person wie Jasper noch frei herumlaufen ließe. Ob Zufall oder nicht: Noch am gleichen Tag wurde Jasper von der SA-Hilfspolizei verhaftet. Mit schweren Folterungen begann sein Martyrium im von SS und SA-Hilfspolizei besetzten „Volksfreundhaus“. Trotz der Misshandlungen, bei denen ihm mehrere Zähne ausgeschlagen worden waren, und Verhöhnungen blieb Jasper standhaft. Weder ergriff er die Pistole, die ihm die Nationalsozialisten mit der Aufforderung zum Freitod hingelegt hatten noch verzichtete er wie gefordert auf sein Landtagsmandat. Ohne Gerichtsverfahren wurde Jasper zur „Schutzhaft“ in das Braunschweiger Gefängnis Rennelberg überstellt, wo man ihn mit einer Kontaktsperre belegte. 1935 erfolgte seine Verlegung in das Konzentrationslager Dachau. Erst 1938 kam er wieder frei. Wobei „frei“ bedeutete, dass er ständig überwacht wurde, sich täglich bei der Gestapo melden musste und nicht reisen durfte. Kontakte zu politischen Weggefährten und Bekannten musste er meiden, damit diese nicht auch in Gefahr gerieten. Weil er seinen Beruf nicht ausüben durfte, musste er von seinen Ersparnissen leben.

Nach dem missglückten Attentat auf Hitler wurde Jasper am 22. August 1944 im Rahmen der „Aktion Gewitter“ erneut verhaftet. Über das Arbeitserziehungslager Hallendorf (Lager 21) der Braunschweiger Gestapo und das Konzentrationslager Sachsenhausen wurde er schließlich in das völlig überfüllte Konzentrationslager Bergen-Belsen überführt. Geschwächt von der Lagerhaft und gezeichnet von Krankheit – wahrscheinlich dem im Lager grassierenden Fleckfieber – und einer Auspeitschung erlag Jasper den physischen Qualen seiner Peiniger. Ein Kamerad fand seine Leiche am 19. Februar 1945 vor einer Baracke liegend im Schlamm. Seine sterblichen Überreste wurden vermutlich in einem Massengrab verscharrt – wie auch die Anne Franks, die im Februar/März 1945 ebenfalls in Bergen-Belsen umkam.

Geschichten von Menschen wie die von Heinrich Jasper zeigen, wie notwendig ein Engagement gegen Gleichgültigkeit und Geschichtsverdrehung ist. Lassen Sie uns unsere Zukunft in die Hand nehmen, indem wir Mut zur Geschichte haben und historische Erfahrungen ernst nehmen!

Die Zitate wurden folgenden Werken entnommen:

  1. Magnus Brechtken, Der Wert der Geschichte. Zehn Lektionen für die Gegenwart, München 2020, S. 12.
  2. Martin Grubert, Anwalt der Demokratie: Heinrich Jasper (1875-1945). Ein politisches Leben in Braunschweig, Braunschweig 2009.

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