| Dr. Regine Marth

Unerwartete Entdeckungen

Schachfiguren von Amoretten und Satyrn

Im Rahmen der Bearbeitung des Bestandes der barocken Elfenbeinfiguren des Herzog Anton Ulrich-Museums gibt es immer wieder unerwartete Entdeckungen, die über den Elfenbeinbestand hinausweisen. Eine davon soll hier vorgestellt werden.

Drei kleine Figuren von Amoretten, also nackte Jungen mit Flügeln sowie mit Pfeilköcher und Bogen, sind auf Holzsockel montiert, wie sie für die Neueinrichtung des Museum 1887 in großen Mengen für die Skulpturen, also z. B. auch für Bronzen, angefertigt worden sind. Die kleinen, nur mäßig pummeligen Jungen sind agil bewegt, in unterschiedlichen Handlungen dargestellt und trotz des kleinen Formats nicht eintönig gestaltet. Bei meinen Recherchen in unserem Elfenbeindepot fiel mir auf, dass wir weitere Figürchen dieses Typus haben, und zwar zwei ähnliche Amoretten, die auf zwei Türmen hocken. Auch sie sind mit Pfeil und Bogen beschäftigt. In Körperbau, der Gestaltung der Köpfe und Haare und der hoch angesetzten Flügelchen sind diese fünf Knaben eindeutig Geschwister. Die drei erstgenannten Figürchen hat Christian Scherer in seinem Bestandskatalog der Elfenbeine von 1931 hintereinander aufgeführt (deswegen auch die aufeinander folgenden Inventarnummern), die Türme aber hat er bei den Varia und Spielfiguren eingeordnet - einen Zusammenhang hat er nicht hergestellt. Es war natürlich eine Freude, diese fünf kleinen Figuren zusammenzufinden, da sich damit ein ganz anderer Zusammenhang ergibt, weil erschlossen werden kann, dass sie als Spiel- bzw. Schachspielfiguren anzusprechen sind.

Aber es gab noch mehr Funde im Depot: Die ungewöhnliche Aufteilung von Skulpturen im HAUM nach Materialien, also Bronze, Holz, Stein, Elfenbein, ist historisch gewachsen und findet sich schon im 18. Jahrhundert. Jedoch verstellt sie in manchen Fällen den Blick auf Zusammenhänge. Dies im Hinterkopf habe ich bei meinen Recherchen meinen Blick regelmäßig auch über andere Bestände schweifen lassen. Und so fielen mir die vier kleinen Satyrknaben auf, die mit Musikinstrumenten beschäftigt sind. Sie sind aus dunkel gebeiztem Holz gearbeitet und wiederum vom Körperbau, der Beweglichkeit und den Proportionen her den drei stehenden Amoretten ganz ähnlich. Die Satyrknaben haben ihre ursprüngliche Sockelplatte, die Plinthe, bewahrt, und diese ist – aus Elfenbein! Es besteht hier also nicht nur aus stilistischen Gründen ein enger Zusammenhang, sondern es kann darüber hinaus die Verwendung von Elfenbein als ein starkes Indiz für die Verwandtschaft der Satyrknaben mit den Amoretten und den Türmen angesehen werden: Diese Figuren gehörten sicherlich ursprünglich zusammen.

Ja, nun wäre es natürlich schön, wenn noch weitere zugehörige Figuren auftauchen würden. Und tatsächlich: zwei weitere Türme lassen sich zuordnen. Diese Türme (Inv. Nr. Hol 60, Hol 61) zeigen wiederum den Farbklang Schwarz und Weiß: Die Türme selbst sind hier aus Ebenholz, die Plinthe und der Schornstein jeweils aus Elfenbein, und der aufsteigende Rauch, der sich bei einem Turm erhalten hat, ist wiederum aus Ebenholz. Aber auch die Türme selber mit den markant gearbeiteten Ecksteinen sind mit den elfenbeinernen Türmen engst verwandt. Und so belegen Materialien und Stil die Verwandtschaft mit den anderen Figuren.

So sind also drei elfenbeinerne Amoretten, vier hölzerne Satyrknaben, die sicherlich als Bauern innerhalb eines Schachspiels zu verstehen sind, zwei elfenbeinerne Türme und zwei hölzerne Türme zusammengefunden worden. Für die fünf Elfenbeinfiguren lässt sich so auch erschließen, dass sie ursprünglich Plinthen aus Holz oder sogar Ebenholz gehabt haben müssen, die verloren gegangen sind. Bei dieser Annahme fehlen Springer und Läufer, Dame und König, und nur bei den Holzfiguren gibt es vielleicht einen Hinweis im Inventar, wie diese aussahen oder was sie darstellten. In der Sammlung sind jedenfalls keine weiteren Figuren vorhanden, die sich stilistisch und in dieser spezifischen Materialkombination zuordnen ließen. Ein Schachspiel, bei dem die Bauern aus Amoretten und Satyrn bestehen, ist im Übrigen bislang ohne Parallele.

Natürlich fragt man sich nun, warum ein Schachspiel derartig auseinandergenommen worden ist. Was soll das? Eine wenn auch nicht ganz befriedigende Antwort darauf lässt sich aus der Museumsgeschichte ableiten:

Mit der Gründung des Museums 1753/54 verfolgte der regierende Herzog Carl I. (1713-1780) eine umfassende Inventarisierungsstrategie. Er hatte aus den verschiedenen Residenzen die Sammlungen in Braunschweig zusammengezogen, und, so ist zu erschließen, sofort ab 1753 Inventare schreiben lassen. Der Elfenbeinbestand scheint von Anfang an eine Sonderrolle gespielt zu haben und ist bereits im ersten Inventar (wahrscheinlich von vor 1763) mit annähernd 800 Einträgen erfasst worden, dies gemeinsam mit den Kostbarkeiten - die Schachfiguren sind hier aber nicht zu identifizieren. Aber in den nach dem Umzug ins Paulinerkloster 1765 geschriebenen Elfenbeininventaren sind unsere drei Amoretten zu erkennen. Einer steht auf einer Konsole, zwei weitere auf einem Schrank, die zwei elfenbeinernen Türme stehen wiederum auf einem anderen Schrank. Die Inventarnummern liegen weit auseinander, weil die Figuren nach ihrem Aufstellungsort nummeriert wurden. Ob das bedeuten muss, dass die Zusammengehörigkeit unbekannt war, ist hieraus nicht zu erschließen. In allen weiteren Inventaren bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden diese Nummern natürlich beibehalten, sodass der ursprüngliche Zusammenhang sich immer weiter verdunkelte. Die Holzfigürchen der Satyrn und der Türme finden sich im allgemeinen Inventar von „Allerley Kunstsachen“. Hier sind die Aufstellungsorte nicht angegeben, die Inventarisierung erfolgte aber offenbar auch der Reihe nach und nicht nach historischen oder kunsthistorischen Gesichtspunkten. Die zwei Türme werden zusammen genannt, aber die vier Satyrn sind innerhalb einer Gruppe von 13 Figuren aus Holz, darunter fünf weitere Satyrn, zwei Indigene Nordamerikas sowie Vulkan und Minerva, zu finden; wie eine Randbemerkung informiert, sind nur noch die vier Satyrn vorhanden. Genaugenommen wird hier nicht mitgeteilt, dass diese Figuren zusammengehören, auch fehlen Angaben zur Größe oder den Attributen. Ikonographisch hätte man sich eher Bacchus und eine Nymphe als König und Dame vorstellen können, aber warum sollten Vulkan und Minerva nicht den Satyrbauern zugeordnet sein? Und das Feuer in den Türmen könnte eine schöne Verbindung zu dem Gott des Feuers herstellen. Was es allerdings mit den Indigenen Nordamerikas in diesem Zusammenhang auf sich haben könnte, muss ungeklärt bleiben, ebenso die Frage, warum es neun Satyrn waren, obwohl als Bauern ja nur acht benötigt werden.

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