| Dr. Sarah Babin

Zwischen Melancholie und Tanz

Die Selbstbildnisse des Ernst Ludwig Kirchners

Eines der vielen Highlights unseres Kupferstichkabinetts ist die Sammlung moderner und zeitgenössischer graphischer Selbstbildnisse, die auf der Sammlung des Braunschweiger Kaufmannes Adolf Dörries (1910-1994) aufbaut. Dörries hatte 895 Selbstbildnisse von 279 Künstlerinnen und Künstlern zusammengetragen. Das Konvolut konnte 1994/95 für das Herzog Anton Ulrich-Museum erworben werden. Dies gelang mit Unterstützung des Braunschweigischen Vereinigten Kloster- und Studienfonds (heute in der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz), in dessen Miteigentum sich diese Sammlung befindet. Vom Museum wird der Bestand kontinuierlich erweitert und um neuere Positionen ergänzt.

Selbstbildnisse gehören sicherlich zu den faszinierendsten Kunstwerken, meint doch der Betrachter hier dem Inneren des Künstlers entgegen zu treten, dem ‚Selbst‘ des Dargestellten. Und anders als die Künstler der Renaissance und des Barock, konnten die Künstler der Klassischen Moderne die Einschränkungen durch Traditionen und Darstellungstypen, die jahrhundertelang auch in der Darstellung des Selbstbildnis vorherrschten, durchbrechen und mehr von sich selbst offenbaren als Künstler früherer Epochen. Der Betrachter muss sich allerdings auch hier immer noch zwischen bewusster Inszenierung und der Verwendung bestimmter Darstellungsmuster unterscheiden und diese in Frage stellen.

Betrachten wir beispielhaft die Selbstbildnisse eines bestimmten Malers. Das HAUM besitzt elf Blätter mit Selbstdarstellungen von Ernst Ludwig Kirchner (1880- 1938), Mitbegründer der Künstlervereinigung Die Brücke. Diese Selbstbildnisse – aus dem Zeitraum von 1915 bis 1933 – illustrieren das vielfältige expressionistische Genie. Dies sei an vier Beispielen veranschaulicht.

Beginnen wir mit dem Selbstbildnis von 1915: Dies war ein schwieriges Jahr für Kirchner. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges hatte er sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, doch bereits im Frühjahr 1915 wurde er beurlaubt und musste sich umgehend in ein Sanatorium begeben. Hochsensibel und mutmaßlich depressiv veranlagt, hatte er aufgrund der vielen Eindrücke und einer gewissen Rastlosigkeit bereits zu seiner Berliner Zeit stark zu Alkohol und Medikamenten gegriffen. Der ungewohnt militärische Drill und der bevorstehende Einsatz hatten diesen Zustand noch verstärkt. Fakt ist, dass er sich auch auf dem Selbstbildnis aus diesem Jahr in maladem Zustand zeigt. Kirchner präsentiert sich als Leidender: ausgezehrt, nervlich wie körperlich. Schwere, tiefe Augenringe betonen das schmale Gesicht. Er blickt den Betrachter direkt aus geschwollenen Augen an. In den vollen Lippen steckt eine Zigarette. Der Hintergrund ist nur schwer erkennbar.

Sechs Jahre später, 1921, fertigte Kirchner dagegen ein fast schon klassisch anmutendes Selbstbildnis und präsentiert sich als schaffender Künstler, ein seit Jahrhunderten sehr beliebter Typus. Das Selbstbildnis, zeichnend schuf er als Holzschnitt. Kirchner sitzt hier frontal zum Betrachter und arbeitet an einem Selbstporträt, das fast exakt dasjenige zu sein scheint, welches wir hier im HAUM in den Händen halten. Der Betrachter nimmt dabei die Position des Spiegels ein, wie wir es auch aus Selbstdarstellungen der Alten Meister kennen. Im Hintergrund sieht man ein angedeutetes Atelier und es findet sich, wie für Kirchner üblich, die obligatorisch nackte Frau im Hintergrund. Diese heute irritierenden Darstellungen nackter Frauen oder auch junger Mädchen im Kreis der Brücke-Künstler werden heute mehr als kritisch betrachtet und in der kunstgeschichtlichen Forschung problembewusst diskutiert.

Die 1920er Jahre waren gute Jahre für Kirchner. 1917 war er nach Davos in der Schweiz gezogen, dort kam er endlich von den Drogen los und verlebt zunächst eine angenehme Zeit in der Abgeschiedenheit der Berge. Ein besonders eindrucksvolles Selbstbildnis fertigte Kirchner 1930 an. Unser Exemplar einen Brief, den Kirchner 1932 als Antwort auf Geburtstagswünsche zu seinem 50. Geburtstag schrieb. Er zeigt sich hier im Profil nach rechts gedreht. Der überdimensionale Kopf sitzt halslos auf dem höckerförmigen Oberkörper. Zwischen den anmutig geschwungenen Lippen balanciert Kirchner eine Zigarette. Das Auge ist ebenfalls übergroß und außergewöhnlich in Szene gesetzt: Der Bogen des Oberlids wird dabei als Linie von der Ohrmuschel bis hin zum Nasenbogen geschwungen. Statt einer Pupille lässt Kirchner in der ovalen, schwarzen Iris eine nackte Frau tanzen, die ihren Rücken nach hinten beugt und rhythmisch tanzend ihr linkes Bein hebt.

Kirchners Begeisterung und Obsession für den Tanz spiegelt sich in zahlreichen seiner Werke wieder. Männliche wie weibliche Figuren beugen sich in zahlreichen Skizzen schwungvoll nach hinten und verbiegen ihre Körper.  Auch im Selbstbildnis mit dem Untertitel Melancholie der Berge von 1929 begegnet uns ein solcher Tänzer. Dort tanzt ein schwarzer Schatten, der keine besonderen geschlechtsspezifischen Merkmale trägt, neben dem in Dreiviertelansicht wiedergegebenen Gesicht des Künstlers, das auch hier seine grandiosen Fähigkeiten im Holzschnitt offenbart.

Es folgten noch viele weitere Selbstbildnisse im Œuvre Kirchners. Auch in einer Zeit, die für ihn immer schwerer wurde zu ertragen. 1937 wurde er als sogenannter „entarteter“ Künstler diffamiert, über 600 seiner Werke wurden in deutschen Museen beschlagnahmt. Am 15. Juni 1938 nahm er sich, seit einigen Jahren wieder morphiumabhängig, mit einem Herzschuss sein Leben.  

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