Maßgeschneidert: Das neue graphische Schaukabinett

Eine der bedeutendsten graphischen Sammlungen Europas

Wenn am 23. Oktober 2016 das Herzog Anton Ulrich-Museum nach siebenjähriger Sanierung neu eröffnet, können sich die Besucher nicht nur in der Gemäldegalerie und im Bereich der Angewandten Kunst auf entscheidende Neuerungen freuen.

Endlich erhält auch die größte Teilsammlung des Museums eine nicht nur dauerhafte, sondern vor allem innovative und maßgeschneiderte Präsentationsfläche. Dank der großzügigen Unterstützung der Stiftung Niedersachsen, die die Realisierung mit Mitteln in Höhe von 300.000 € gefördert hat, und in enger Zusammenarbeit mit dem Architektenbüro Kuehn Malvezzi konnte für das Kupferstichkabinett des Herzog Anton Ulrich-Museums ein graphisches Schaukabinett eingerichtet werden. In sechs eigens nach den Vorgaben des Museums und Kuehn Malvezzis entwickelten Schauvitrinen kann den Besuchern in Zukunft ein Schaufenster in eine der bedeutendsten graphischen Sammlungen Europas geboten werden. Themen der wechselnden Präsentationen im Schaukabinett sind die international führenden Meister der Graphik vom Mittelalter bis in die Gegenwart, von Albrecht Dürer über Rembrandt und Goya bis Picasso und Jim Dine, ebenso wie die Funktionen, Techniken und vielfältigen Themen von Handzeichnung und Druckgraphik. Die Eröffnungspräsentation ab dem 23. Oktober 2016 ist betitelt „Künstler! Druckgraphische Bildnisse aus sechs Jahrhunderten“.

„Die Maxime, unsere Kunstwerke optimal in ihrer Prachtentfaltung zu unterstützen und unseren Besuchern Kunstgenuss auf höchstem Niveau zu ermöglichen, hat uns bei der Konzeption aller Bereiche und Maßnahmen geleitet“, erklärt Museumsdirektor Prof. Dr. Jochen Luckhardt. „Im Bereich der graphischen Sammlung hat das Kuehn Malvezzi und uns allerdings eine Menge Kopfzerbrechen gekostet.“

Die Herausforderung bei der Präsentation graphischer Kunstwerke
Das Warum erklärt Prof. Dr. Thomas Döring, Leiter des Kupferstichkabinetts:
„Wir standen vor drei Herausforderungen gleichzeitig.

  1. Wir wollten ein unmittelbares, erstrangiges Seh-Erlebnis kreieren, wie es dem unmittelbaren Umgang mit graphischen Werken auf den Tischen im Studiensaal des Kupferstichkabinetts entspricht. Die Präsentation von Graphik leidet fast immer und überall unter den Ausstellungsbedingungen. Die Kunstwerke werden in der Regel in genormten, gleichförmigen Wechselrahmen an der Wand hängend präsentiert. Diese Präsentationsform nimmt dem graphischen Kunstwerk durch die erdrückende mehrfache Umrahmung – Passepartout und Wechselrahmen – und die Fixierung als „Flachware“ an der Wand jeglichen individuellen Objektcharakter. Es besteht immer die Gefahr, dass in der Wahrnehmung der BesucherInnen ein Kunstwerk auf Papier als nachrangig erscheint.
  2. Wir mußten optimale konservatorische Bedingungen schaffen. Das Bewahren, Ausstellen und Betrachten von Handzeichnungen und Druckgraphik erfordert besondere Bedingungen. Das liegt vor allem an der Lichtempfindlichkeit von Kunstwerken auf Papier: Gemäß international verbindlichen Museumsstandards dürfen Kunstwerke auf Papier, um sie vor irreversiblen Lichtschäden zu bewahren, nur jeweils maximal 12 Wochen bei gedämpftem Licht (max. 50 Lux) ausgestellt werden, um danach mindestens fünf Jahre in Dunkelheit zu verbringen.
  3. Last but not least mußten wir auch die Logisitk im Blick behalten. Die traditionelle Präsentationsform von Graphik mit Passepartouts in Wechselrahmen an der Wand bringt in Bezug auf Rahmung, Hängung und Beleuchtung einen Arbeitsaufwand mit sich, den wir mit dem vorhandenen Personal nicht mehrfach im Jahr hätten leisten können – angesichts der konservatorischen Rahmenbedingungen aber hätten leisten müssen.“


Innovative neue Graphik-Vitrinen
In enger Zusammenarbeit mit dem Architektenbüro Kuehn Malvezzi ist es schließlich gelungen, eine völlig neue Präsentationsform zu entwickeln, die alle drei Bedingungen erfüllt. Kern des Konzepts sind sechs beidseitig bestückbare, verglaste Vitrinen mit den Maßen 234 x 308 x 110 cm (H x B x T), in denen jeweils bis zu zehn graphische Kunstwerke präsentiert werden können. Der Vitrinenkörper ruht jeweils auf einem Tisch, dessen Vorsprung (12 cm breit, in 85 cm Höhe) zum Aufstützen einlädt. Auf diese Weise können die BesucherInnen die auf leicht angeschrägter Rückwand in Augenhöhe präsentierten ungerahmten (lediglich passepartourierten) Blätter konzentriert und zugleich entspannt über längere Zeit betrachten, ohne körperlich zu ermüden.

Die Fläche des Objektträgers wird mit Stoff von mittlerer Tönung bespannt, um den zumeist elfenbeinfarbigen Passepartouts keinen zu harten Kontrast zu bieten – der wiederum vom eigentlichen Zentrum, dem Kunstwerk, ablenken würde. Tischhöhe, Sehdistanz, Neigungswinkel der Präsentationsfläche und der gegenläufig schräg geführten Glasscheibe, Höhe des Objektträgers und Position der integrierten, blendfreien Beleuchtung sind in Testreihen am 1:1-Modell mit Probanden unterschiedlicher Statur und Betrachtungsgewohnheiten ermittelt worden und bieten ein Höchstmaß an Ergonomie.
Die Frontscheibe fährt zum ungefährdeten Objektwechsel garagentorartig nach oben auf. So kann der Objektwechsel einfach und gefahrlos für Kunstwerk und Mensch bewerkstelligt werden. Zwischen den schrägen Objektträgern kann ggf. unsichtbar eine Substanz zur Stabilisierung der Luftfeuchtigkeit eingebracht werden.
Nicht zuletzt sind die Vitrinen nicht fest im Raum montiert, sondern sind trotz ihres hohen Gewichtes (ca. 900 kg pro Vitrine) mittels Hubwagen frei beweglich und können somit auch in anderen Ausstellungsräumen positioniert werden.

„Eine derart maßgeschneiderte, innovative Lösung hat natürlich ihren Preis“, betonen Prof. Dr. Luckhardt und Prof. Dr. Döring. „Ohne die Förderung der Stiftung Niedersachen hätten wir diese außergewöhnliche Neuerung niemals realisieren können.“
„Die Stiftung Niedersachsen ist sich der herausragenden Bedeutung der graphischen Sammlung des Museums bewusst, ebenso der besonderen konservatorischen Anforderungen dieser fragilen Kunstwerke“, erklärt Amke Wollers von der Stiftung Niedersachsen die Förderung des Projektes. „Die Stiftung hat in der Vergangenheit mehrfach zentrale Ankäufe übernommen, wie im Jahr 2008 den Erwerb der Zeichnung „Zwei Welfenherzöge“ des Renaissance-Künstlers Pirro Ligorio oder im Jahr 2011 den Erwerb von 104 Radierplatten von Johann Elias Ridinger. Die Höhe der Fördersumme von 300.000 €, die die üblichen Summen bei weitem übertrifft, ist ein Ausdruck der besonderen Verbundenheit der Stiftung zur graphischen Sammlung des Museums. Wir freuen uns, dass die von uns geförderten Schauvitrinen es in Zukunft ermöglichen, dass Besucher die fragilen Blätter in entspannter Atmosphäre aus großer Nähe betrachten können, ohne die Kunst zu gefährden.“