Rüdiger Klessmann, am 15.03.1927 in Lemgo geboren, ist am 30.03.2020 in Augsburg verstorben. Am 1. November 1970 trat er sein Amt als Direktor des Herzog Anton Ulrich Museums an und stand der Institution bis zum 31. Januar 1990 vor.
Studium und Forschung
Rüdiger Klessmann begann seine wissenschaftliche Karriere mit dem Studium der Kunstgeschichte an den Universitäten Göttingen und Kiel, das er mit einer 1952 vorgelegten Dissertation über die Baugeschichte der Stiftskirche zu Möllenbeck an der Weser abschloss. Er arbeitete als Volontär am Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt am Main und war danach wissenschaftlicher Assistent am Kunsthistorischen Institut der Universität Stuttgart. Von 1957 bis 1970 wirkte Rüdiger Klessmann als Kustos an der Berliner Gemäldegalerie.
Klessmann leistete mit zahlreichen Publikationen einen herausragenden Beitrag zur Erforschung der niederländischen und deutschen Kunst des 16. bis 18. Jahrhunderts. Neben kunsttheoretischen Forschungen, u. a. zur Ikonologie, zur Emblematik und zum Künstlerselbstbildnis, legte er, produktiv bis in seine letzten Jahre, umfangreiche monographische Publikationen und eine Vielzahl von Aufsätzen unter anderem zu Jan Lievens, Johann Liss, Adam Elsheimer, Hans van Aachen und Johann Rottenhammer vor. Auch veröffentlichte er zahlreiche Studien zur flämischen Barockmalerei, u. a. zu Jacob Jordaens und Peter Paul Rubens. Seine Ausstellung über Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel zeigte 1983 erstmals ein umfassendes Bild des Sammlungsgründers.
Direktor in Braunschweig
Am Herzog Anton Ulrich-Museum legte Klessmann Schwerpunkte seiner Arbeit gleichermaßen auf Forschung wie auf Besucherorientierung. International vernetzt, schätzten berufliche Wegbegleiter seinen beherzten, energisch Impulse setzenden Einsatz ebenso wie die ihm eigene große Sensibilität für zeitaktuelle Strömungen und breite Publikumsinteressen. Gezielt setzte Klessmann wirkungsvolle Akzente und griff neue Themen und Inhalte auf.
Modernisierungen
Rüdiger Klessmann nahm in Braunschweig umfangreiche Modernisierungen in Angriff. Besonderes Augenmerk richtete er dabei stets auf die Pflege und Erforschung der Bestände. So führte er den Bereich der Gemälderestaurierung gemeinsam mit dem Restaurator Knut Nicolaus auf die Höhe international führender Standards. Daneben trugen zwei große Sonderausstellungsräume sowie ein moderner Besucherbereich mit Cafeteria dem Interesse der Öffentlichkeit an zeitgemäßer Museumsarbeit Rechnung. Ganz wesentlich ist ihm bis heute die seinerzeit gegen Widerstände durchgesetzte Professionalisierung des Museumsbetriebs durch Schaffung wichtiger Stellen zu
verdanken. So besetzte Klessmann Positionen in den Bereichen der Gemäldegalerie, des Kunsthandwerks und der Museumspädagogik. Beharrlich verstärkte er zudem die Gemälderestaurierung und schuf erstmals eine Stelle in der Textilrestaurierung für die
Betreuung der bedeutenden mittelalterlichen Bestände des Museums.
Neukonzeptionen
Die Gemäldegalerie lag Rüdiger Klessmann besonders am Herzen. Hier kümmerte er sich um die Neuhängung der Gemälde und schuf auf Grundlage eines neu entwickelten Farbkonzepts neue Raumeindrücke. Die Abteilung Angewandte Kunst im zweiten Obergeschoss erhielt einen durchgehenden Rundgang über die gesamte Etage und gemeinsam mit Kustos Bodo Hedergott entwickelte Klessmann innovative Neuaufstellungen der Kunstkammer und der Ostasiatica. 1985 bildete die Außenrenovierung des Museums den weithin sichtbaren Schlusspunkt umfangreicher
Bau- und Einrichtungsmaßnahmen unter seiner Ägide. Die Burg Dankwarderode verdankt Klessmanns Engagement die Rekonstruktion ihrer historistischen Architektur und Ausstattung, insbesondere des Rittersaals, im Verein mit dem Architekten Justus Herrenberger. Einen Glanzpunkt setzte dabei die Präsentation des originalen Burglöwen im Knappensaal.
Das Publikum im Blick
Rüdiger Klessmann nahm von Beginn an die Wünsche des Publikums ernst und verstand es, das traditionelle Museum neu zu interpretieren und in einer sich ändernden Gesellschaft zu positionieren. So schuf er 1972 mit Weitblick die Grundlagen für ein „audiovisuelles Studio“, das als erste Einrichtung dieser Art in Deutschland der ansprechenden und niederschwelligen Vermittlung diente. Die Konzertreihe „Jazz bei Anton Ulrich“ mit bedeutenden Musikern aus dem In- und Ausland beruhte auf der Leidenschaft des Direktors ebenso wie auf dessen Kontakten in die internationale Szene und zählt noch heute zu den legendären Veranstaltungsreihen des Hauses. Klessmann konnte mit seinem Team die Besucherzahlen zwischen 1973 und 1987 mehr als verdreifachen: sie stiegen von 42.000 auf über 136.000 an.
Kunst für das Museum – Erwerbungen
Rüdiger Klessmanns wissenschaftliche Expertise sowie seine internationalen Verbindungen bildeten die Grundlage bedeutender Erwerbungen während seiner Amtszeit. Unter den zahlreichen herausragenden Stücken hervorzuheben sind Adam Elsheimers „Pietà“, Peter Paul Rubens „Anbetung der Hirten“ oder Orazio Gentileschis „Dornenkrönung Christi”. Die Mittelalter-Abteilung vermehrte er um ein für Braunschweig bedeutendes Kästchen aus dem Welfenschatz. Unter den vielen von ihm ermöglichten Erwerbungen für das Kupferstichkabinett ragen mehrere komplette
Zyklen aus dem Werk Francisco de Goyas, Zeichnungen Caspar David Friedrichs und Carl Blechens hervor. Zudem ist ihm die Öffnung der Sammlung für die Kunst der Klassischen Moderne und des 20. Jahrhunderts und bis in unsere Gegenwart zu verdanken.
Forschung und Verantwortung
Klessmanns Arbeit gründete auf der Überzeugung, dass Museumsarbeit stets auf solider kunsthistorischer und kunsttechnologischer Forschung beruhen müsse. Dieser Überzeugung ist die von ihm begründete Reihe wissenschaftlicher Bestandskataloge zu verdanken. Unter seiner Leitung erschienen das Verzeichnis der Gemälde vor 1800, die italienische Majolika, die deutschen Gemälde des 17. und 18. Jahrhunderts. Den Bestand der holländischen und der flämischen Gemälde des 17. Jahrhunderts erfasste Klessmann selbst. Als Wissenschaftler gelang Klessmann die Wiederentdeckung zu Unrecht vergessener Künstlerpersönlichkeiten wie Rembrandts Jugendfreund Jan Lievens oder des Utrechter Caravaggio-Nachfolgers Hendrick ter Brugghen. Er machte
sich zudem zu einem frühen Zeitpunkt stark für die Provenienzforschung und plädierte für die Offenlegung der nationalsozialistischen Beschlagnahme von als „entartet“ diffamierten Kunstwerken.
Ehrungen und internationaler Austausch
Durch Freundschaften mit führenden internationalen Kollegen in Museen und Universitäten, etwa Jan Białostocki in Warschau oder Eddy de Jongh in Utrecht, verdanken sich einige der attraktivsten Ausstellungen seiner Amtszeit. Zu großer Nachwirkung gelangte die Ausstellung „Die Sprache der Bilder“ von 1978, die einem breiten Publikum einen Einblick in die komplexen Bedeutungswelten holländischer Sittengemälde vermittelte. Die intensive Zusammenarbeit mit Polen war unter dem Eindruck deutscher Verantwortung Klessmanns besonderes Anliegen. Hieraus entstand 1974/75 die Idee eines europaweit Aufsehen erregenden bilateralen Ausstellungsaustauschs: „Deutsche Kunst des Barock“ im Warschauer Nationalmuseum sowie „Polnische Kunst des Barock“ im Herzog Anton Ulrich-Museum.
Im Katalogvorwort schrieb Klessmann dazu, dass „diese Darbietungen einen Einblick in die nationale Kultur und Geschichte beider Länder vermitteln“ sollten und Kunstwerke in besonderer Weise geeignet seien, zur „Verständigung zwischen den Völkern beizutragen“, böten sie doch „fruchtbare Ansätze für die Zukunft“. Rüdiger Klessmann wurde für dieses Engagement 1991 mit dem Bundesverdienstkreuz und dem polnischen Verdienstorden für Kulturschaffende ausgezeichnet. Er wurde zudem als erster Deutscher Ehrenmitglied der Gesellschaft polnischer Kunsthistoriker.
Bis ins hohe Alter war Klessmann aktiv und blieb Forschung und Publikum verpflichtet. So stieß die unter seiner Leitung konzipierte Ausstellung „Im Detail die Welt entdecken, Adam Elsheimer 1578–1610“ des Frankfurter Städel im Jahr 2006 auf große Resonanz und gilt noch heute als Wegmarke in der Beschäftigung mit diesem Ausnahmekünstler.
Das Herzog Anton Ulrich-Museum, die Braunschweiger Kollegen*innen und mit ihnen die internationale Museumswelt sowie die Wissenschaft im In- und Ausland verlieren einen großzügigen Kollegen und profunden Kenner. Rüdiger Klessmann hat den vorurteilsfreien Austausch sowie das Interesse an und den Einsatz für die Kunst stets in das Zentrum eines beispielgebenden Wirkens gestellt.