Tacitus-Codex kommt nach Braunschweig

Handschrift widerlegt niedersächsischen Mythos

Der sogenannte „Tacitus-Codex“, die älteste erhaltene Abschrift eines Teiles der Annalen des römischen Geschichtsschreibers Publius Cornelius Tacitus, gibt ein seltenes Gastspiel in Deutschland.

Die einzigartige Handschrift, heute im Besitz der Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz, ist vom 22. September 2019 bis zum 2. Februar 2020 im Rahmen der Niedersächsischen Landesausstellung „Saxones. Das erste Jahrtausend in Niedersachsen“ exklusiv im Braunschweigischen Landesmuseum zu sehen. Der „Tacitus-Codex“ umfasst sechs der ursprünglich 16 bis 18 Bücher der Annales des Tacitus, in denen der römische Historiker die Geschichte Roms vom Tod des Kaisers Augustus im Jahr 14 n.Chr. bis (vermutlich) zum Tod des berüchtigten Kaisers Nero erzählt. Tacitus beschreibt in seinen Annalen unter anderem auch die berühmte „Schlacht im Teutoburger Wald“, und wurde durch die positive Darstellung des germanischen Anführers Arminius unfreiwillig zum „Geburtshelfer“ der deutschen Germanen-Verklärung.

Der Tacitus-Codex entstand als Abschrift vermutlich im frühen Mittelalter in der Klosterbibliothek Fulda und gelangte im 9. Jahrhundert ins Kloster Corvey bei Höxter, wo er bis zu seinem Diebstahl Anfang des 16. Jahrhunderts verblieb. In Corvey hat der Tacitus-Codex sehr wahrscheinlich zur Lektüre eines weiteren einflussreichen Geschichtsschreibers gehört: Die Rede ist von Widukind von Corvey. Im 10. Jahrhundert schreibt der Mönch die „Res gestae Saxonicae“, zu Deutsch Sachsengeschichte, und legt den Grundstock für den Mythos eines früh geeinten „Stammes“ von „Sachsen“, die die Geschicke der norddeutschen Tiefebene bestimmten. 1.000 Jahre später hat der Mythos immer noch Bestand, als der erste Niedersächsische Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf im Jahr 1946 betont, das neu gegründete Bundesland Niedersachsen sei kein durch die Besatzungsmacht Großbritannien gebildetes Kunstprodukt, „sondern durch die Stammesart seiner
Bewohner […] ein organisch gewachsenes zusammenhängendes Ganzes“. Das
sogenannte Niedersachsen-Lied, das der Ministerpräsident höchstpersönlich und
singend von Schützenfest zu Schützenfest ziehend in den Köpfen der Menschen zu
verankern suchte, datiert den vermeintlichen „Stamm“ gar zurück bis zur Varus-
Schlacht:
Wo fiel´n die römischen Schergen? […] Wer warf den römischen Adler in den Sand? […] Das war´n
die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen, Heil Herzog Widukinds Stamm!


Konsultiert man hingegen den Tacitus-Codex, eine der wenigen Quellen über diese Zeit, ist festzuhalten: keine Spur von Sachsen. Tacitus nennt über 40 verschiedene germanische Gruppierungen beim Namen, eine Gruppe von „Saxones“ ist jedoch nicht dabei.

Widukinds wirkmächtige Darstellung eines „Stammes“ von „Sachsen“, deren genauer Ursprung unbekannt war – waren sie Dänen, Normannen oder vielleicht sogar die Nachfahren der Reste des makedonischen Heeres Alexanders des Großen? – überlagerte für mehr als ein Jahrtausend die historische Realität. Erst im ausgehenden 20. Jahrhundert hat die Forschung das Bild des mythenumwobenen sächsischen Stammes revidiert. Die Ergebnisse werden erstmals in der großen Niedersächsischen Landesausstellung „Saxones. Das erste Jahrtausend in Niedersachsen“ präsentiert. Ab dem 22. September 2019 ist die Schau im Braunschweigischen Landesmuseum zu
sehen.