Aus der Sammlung
Bettina Gierke, M.A., Dr. Hansjörg PötzschProvenienzforschung und Partizipation
Wie entstehen Museumssammlungen?
Aus der Sammlung
| Dr. Hansjörg PötzschDie Braunschweigerin Helene Lilien (1880–1971) war Künstlerin, Malerin und Linolschneiderin, ausgebildet an den Kunstakademien in München und Karlsruhe. Als Witwe des 1925 verstorbenen Graphikers und Illustrators Ephraim Moses Lilien (1874–1925) bewahrte sie dessen künstlerischen Nachlass. Als Jüdin wurde sie 1933 aus dem Wirtschaftlichen Verband bildender Künstler, dessen Schriftführerin und geschäftsführendes Mitglied sie war, und aus dem Ausstellungsverband Künstlerbund Niedersachsen ausgeschlossen. Beide Künstlerverbände hatte ihr Mann 1920 beziehungsweise 1922 gegründet. Helene Lilien war eine starke und selbstbewusste Frau, und das auch in Zeiten des Nationalsozialismus. Das zeigt ihr Artikel „Das Jahr des Jüdischen Frauenbundes“, der am 15. Oktober 1933 in der Zeitschrift Die Logenschwester erschien. Darin schrieb sie mit Blick auf die Verfolgung der Juden im NS-Staat:
Man kann uns politisch entrechten, aber über unsere Würde entscheiden nicht unsere Feinde, sondern wir selbst.
Spätestens nach den Terrorakten des Novemberpogroms von 1938 dürfte sich Helene Lilien, wie viele andere Jüdinnen und Juden, dazu entschlossen haben, Deutschland zu verlassen. 1939 emigrierte sie zunächst nach Großbritannien, 1943 dann in die USA. Vor ihrer Emigration im Juni 1939 hatte sie Zeichnungen, Radierungen, Briefe und die Bibliothek ihres verstorbenen Mannes an ihren Sohn Otto M. Lilien (1901–1991) geschickt, der nach Palästina emigriert war – wohin sie ursprünglich wohl auch selbst gehen wollte. Vom Braunschweigischen Landesmuseum (bis 1938 „Vaterländisches Museum“) hatte sie im Dezember 1934 und im März/April 1939 insgesamt zehn Kunstwerke zurückgefordert und gegen Quittungen zurückerhalten. Die Kunstwerke stammen aus der 1928 aus finanziellen Gründen geschlossenen Samsonschule Wolfenbüttel. Bei den Kunstwerken handelt es sich vor allem um Portraits aus der namengebenden Gründerfamilie der Schule, Samson, mit der Helene Lilien über ihren Vater, den Braunschweiger Juristen Otto Magnus (1836–1920), verwandt war. Dessen Mutter Minna (1809–1883) war eine geborene Samson. 1929 hatte Helene Lilien diese zehn und weitere Kunstwerke und Objekte aus der aufgelösten Samsonschule als Dauerleihgabe an das Vaterländische Museum übergeben, und zwar in ihrer Funktion als geschäftsführendes Mitglied der Administration des Samsonschen Legatenfonds der Samsonschule.
Dem Vaterländischen Museum war schon Ephraim Moses Lilien in besonderer Weise verbunden gewesen. Neben anderen hatte er 1924 die Erwerbung und damit die Rettung der barocken Inneneinrichtung der Hornburger Synagoge durch das Vaterländische Museum unterstützt. Mit dem Erwerb der Hornburger Synagogeneinrichtung hatte der damalige Leiter des Vaterländischen Museums, Karl Steinacker (1872–1944), ganz bewusst den Grundstein für den Aufbau einer jüdischen Abteilung im Vaterländischen Museum gelegt. Er wollte neben den christlichen Religionen auch das Judentum in seinem Museum repräsentiert sehen. Das fand bei Jüdinnen und Juden des Landes Braunschweig viel Anerkennung und Zuspruch. So offensichtlich auch bei Helene Lilien.
Die vom Braunschweigischen Landesmuseum zurückerhaltenen Kunstwerke aus der Samsonschule sowie weitere Kunstwerke aus ihrem Besitz wollte Helene Lilien offenbar mit in die Emigration nehmen. Ein großer Teil der vom Landesmuseum zurückerhaltenen Kunstwerke dürfte sich deshalb in ihrem Umzugsgut (auch: Übersiedlungsgut) befunden haben, das bei der Firma Bohne in Bremen zur Verschiffung nach England gelagert wurde. Denn in ihrem Umzugsgut enthalten waren neben dem Hausrat unter anderem auch 70 gerahmte Ölgemälde, Radierungen, Holzschnitte, Miniaturen und Fotografien, darunter Bilder der Familie, eigene Kunstwerke Helene Liliens und Kunstwerke anderer Künstler, darunter wiederum das Gemälde „Die Dorfpolitiker“ von Johann Peter Hasenclever. 1941 war das Umzugsgut Helene Liliens von der Gestapo konfisziert und später versteigert worden. Der Verbleib ist unbekannt.
Nach 1945 begann Helene Lilien mit der Suche nach den über ihr Umzugsgut verlorengegangen Kunstwerken, besonders das Hasenclever-Gemälde stand dabei in ihrem Fokus. Doch ihre Suche blieb erfolglos. Die Kunstwerke aus dem Umzugsgut bleiben bis heute verschollen. Die Familie Helene Liliens entschloss sich deshalb 2022 dazu, die 20 namentlich bekannten verschollenen Kunstwerke bei Lost Art als Suchmeldung zu listen. Die Familie wurde dabei von Susanne Kiel, die das vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderte Bremer Umzugsgutprojekt „Der Umgang mit Übersiedlungsgut jüdischer Emigranten in Bremen nach 1939: Beteiligte, Netzwerke und Wege der Verwertung“ am Deutschen Schifffahrtsmuseum Bremerhaven bearbeitet*, und von Dr. Hansjörg Pötzsch, Provenienzforschung der 3Landesmuseen Braunschweig, unterstützt.
Lost Art, oder genauer die Lost Art-Datenbank, „wird von der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste unterhalten. Sie dokumentiert Kulturgüter, die ihren Eigentümer:innen zwischen 1933 und 1945 aufgrund nationalsozialistischer Verfolgung entweder nachweislich entzogen wurden, oder bei denen ein solcher Entzug nicht ausgeschlossen werden kann („NS-Raubgut“).“ (zit. n. „Über die Lost Art-Datenbank“) Es können dabei einerseits Fundmeldungen von vorhandenen Kulturgütern gelistet werden, die NS-verfolgungsbedingt entzogen worden sind oder sein könnten, und andererseits auch Suchmeldungen von verschollenen Kulturgütern einstellen, wie im Falle der Kunstwerke aus dem Umzugsgut Helene Liliens.
Aus den 20 Suchmeldungen der Familie Helene Liliens sind in diesem Blog-Beitrag sechs der neun Kunstwerke abgebildet, die Helene Lilien 1939 vom Braunschweigischen Landesmuseum aus der Samsonschulen-Dauerleihgabe zurückerhalten hat. Von zwei Kunstwerken, einem silbernen Ehrenpokal für Dr. med. Schrader und einem Ölgemälde Philipp Samsons (1743–1805), sind keine Fotos bekannt. Eine Miniatur Philipp Samsons befindet sich im Besitz der Familie Helene Liliens. Die hier gezeigten Objektfotos stammen wahrscheinlich aus der Familie Helene Liliens und müssen vor 1939 aufgenommen worden sein. Alle 20 Suchmeldungen können in der Lost Art-Datenbank unter „Lilien, Helene geb. Magnus“ und dann unter „Alle Objekte in der Suche“eingesehen werden.
Haben Sie Hinweise auf den Verbleib der gesuchten Kunstwerke? Wissen Sie, wo die Kunstwerke sind? Dann wenden Sie sich bitte an den bei Lost Art genannten Ansprechpartner.
* Für Hamburg gibt es das von Dr. Kathrin Kleibl bearbeitete Umzugsgutprojekt „LIFT-Prov – Der Umgang mit Übersiedlungsgut jüdischer Emigranten in Hamburg nach 1939: Beteiligte, Netzwerke und Wege der ‚Verwertung‘“. Beide Umzugsgutprojekte sind auch in der Forschungsdatenbank Proveana des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste verzeichnet. Der Eintrag zum Umzugsgut Helene Liliens in der LostLift Datenbank findet sich hier.
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